Zum Sonnenaufgang auf's Walmendinger Horn

Zum Sonnenaufgang auf's Walmendinger Horn

Eine Sonnenaufgangstour als Lieblingstour zu bezeichnen, ist so eine Sache. Wandern ist toll. Ein Sonnenaufgang ist wundervoll. Der einzige Haken an der Sache ist: Sonnenaufgänge finden sehr früh morgens statt.


2:20 Uhr: Startklar sieht anders aus

Alles an mir ist schwer. Ich konzentriere mich auf’s Aufwachen. Es ist eine seltsame Zeit. Es ist nicht mehr gestern, aber der Tag ist auch noch nicht so richtig im Heute angekommen. Drei Stunden Schlaf sind nicht viel, aber daran liegt es nicht. Aufstehen ist immer schlimm, aber dies ist einfach viel, viel zu früh für mich.

Für heute habe ich mir etwas vorgenommen. Klares Wetter ist angesagt und in unserem Hotel erwarten wir einen ruhigen Vormittag ohne Check-Outs. Ich habe mit allen abgesprochen, dass ich heute beim Frühstücksdienst nicht da sein werde. Beste Voraussetzungen. Mein Plan ist folgender:
Ich möchte heute zum Sonnenaufgang auf’s Walmendinger Horn wandern.
Das Walmendinger Horn befindet sich im Kleinwalsertal. Mit knapp 2000 Metern gehört es zu den aussichtsreichsten Gipfeln des Tals. Es ist Ende Mai, und auf der Webcam habe ich während der letzten Tage das Schmelzen der letzten Schneeflächen am Gipfel verfolgt. Ich erwarte einen kalten Morgen, aber begehbare Wege.

Das ist nicht meine erste Sonnenaufgangs-Wanderung, aber Ende Mai geht die Sonne einfach besonders zeitig auf. Um 5:30 Uhr. Fünf Uhr Dreißig! Das ist schon sehr, sehr früh und jetzt überlege ich ernsthaft, den Plan zu verwerfen. Ich bin sehr, sehr langsam. Anziehen, kleines Frühstück, Tee kochen für die Thermoskanne.
Unser Hund Emil versteht, dass es heute mitten in der Nacht losgeht und setzt sich neben meinen Sachen bereit, damit ich ihn nicht vergesse.

Alles ist vorbereitet. Emil ist topmotiviert. Ich erinnere mich daran, dass ich gestern noch voller Vorfreude war.
Ein kurzer Check, ob ich alles dabei habe. Durchatmen. Also gut. Ich bin mit meinen Plänen einverstanden. Der Berg ruft.

Sternenhimmel Großer Wagen

3:03 Uhr: Los geht's!

Ich bin draußen, jetzt bin ich wach. So eine leise kribbelnde, angenehme Unruhe macht sich breit. Vorfreude. Der Sternenhimmel glänzt über uns, der Morgen ist klar und kalt. Bei uns im Tal hat es neun Grad, oben hat es wahrscheinlich nur knapp über null. Ich bin froh, dass ich noch an ein paar dünne Handschuhe gedacht habe. 

Uns erwarten gut 700 Höhenmeter. Eine Sonnenaufgangstour ist eine der wenigen Wanderungen, bei der ich wirklich pünktlich an einem bestimmten Ort sein möchte: Zum Sonnenaufgang oben am Gipfelkreuz. Und dort möchte ich ankommen, ohne mich zwischendurch unter Druck zu setzen. Ich habe mir genug Zeit eingeplant, aber die fehlt mir dann natürlich beim Schlafen. Ist jetzt auch egal.

Nun übernehmen Konzentration und Neugier, und als ich vom Autoradio noch mit „Je marche seul“ beglückt werde, habe ich diesen Morgen endlich in’s Herz geschlossen. Erinnerungen an die Schulzeit werden wach. Dankeschön, das passt. Ich laufe heute zwar nicht ganz absolument seule, aber nun habe ich einen gut gelaunten Ohrwurm für den Aufstieg.
Das Tal schläft noch, zwischen Riezlern und Mittelberg begegnet mir kein Mensch.


3:25 Uhr: Start in Mittelberg

Kurz vor halb Vier starten wir, Emil und ich.
Los geht es an der Talstation der Walmendingerhornbahn auf 1200 m. Der Weg führt zügig bergauf, Richtung Bühlalpe. Still ist es, ein leichter Wind streicht über das Gras. Habt ihr schon einmal bemerkt, wie viele Geräusche in Stille enthalten sein können?

Meine Stirnlampe lasse ich auf der schwächsten Stufe. So sehe ich irgendwie besser, als wenn ständig ein hell strahlender Lichtkegel vor mir über den Weg flackert. In der Wiese neben mir ist es bunt. Hier blüht der Frühling und ich freue mich darauf, das im Abstieg bei Tageslicht zu sehen. Es ist anstrengend, aber immerhin geht es viel besser, als ich dachte. Nach den ersten 100 Höhenmetern ist mir gut warm geworden und ich verstaue die Jacke im Rucksack.

Ich kenne den Weg, ich weiß, dass jetzt ein kleines Waldstück kommt. Aber wie fremd alles aussieht, wie anders Entfernungen und Steigungen bei Nacht wirken! Liegt es an der Dunkelheit oder an der ungewohnten Wanderzeit? Ich habe kein Gefühl dafür, wie schnell ich bin, oder welche Höhe wir bereits erreicht haben. Vielleicht liegt es einfach daran, dass man keine Fernsicht hat und einfach nur vor sich hin läuft. Es gibt nicht viel zu tun, außer zu gehen und zu atmen. Rechts, links, rechts, links, einatmen, ausatmen, einatmen, ausatmen. Emil tapst gleichmäßig an der Leine vor mir her.
Nach dem kleinen Waldstück erreiche ich die Bühlalpe und staune, wie hoch wir schon über Mittelberg sind. Wie weit entfernt die Straßenbeleuchtung da unten schon ist! Und wo bei Tageslicht die Terrasse der Alpe brummt, ist jetzt nur das Läuten der Kuhschellen zu hören.

Mittelberg bei Nacht

4:04 Uhr: Stutzalpe

Ich habe heute überhaupt kein gutes Zeitgefühl, aber ich sehe, dass wir jetzt etwa eine Stunde unterwegs sind. Mein nächstes Zwischenziel ist die Stutzalpe. Links vom Weg taucht sie auf. Unverkennbar, wenn man daran vorbeiläuft und von oben auf das große Dach und den Bergahorn blicken kann. Hier bin ich richtig. Wir sind jetzt auf 1500 m und auf freier Fläche. Es wirkt gleich heller.
Beim Blick zurück Richtung Osten sehe ich, dass der Himmel sich langsam verfärbt. Die Bergsilhouetten zeichnen sich schon gegen den Himmel ab. Das wird ein richtig toller Tag heute und die Sonne wird gut zu sehen sein, wenn sie sich über den Horizont schiebt. Kurz nach der Stutzalpe kann ich mich entscheiden: Gehe ich auf einem urigen Wanderpfad weiter nach oben, oder lieber auf dem Wirtschaftsweg, der etwas weiter ausholt?

Ich entscheide mich für die zweite Möglichkeit. Nachts brauche ich keinen verwunschenen Pfad, keine Wurzeltritte und keine schönen Steine.
Ich brauche einen zuverlässigen Weg, trittfest, sicher. Ich bin jetzt zwar auf der Südwestseite des Berges, wo tagsüber viel Sonne hinkommt, aber so früh im Jahr können mir auch hier noch ein paar Schneereste begegnen, oder Schmelzwasserbäche und andere glitschige Stellen. Da ist mir der Wirtschaftsweg einfach lieber.
Nun denn. Weitergehen, weiteratmen, hoch, hoch, hoch.


4:28 Uhr: Dem Gipfel entgegen

Die Stirnlampe kann ich jetzt ausschalten. Der obere Bereich des Walmendinger Horns ist baumfrei und außerdem erwacht langsam der Tag. Beim Blick nach oben kann ich schon den Muttelberg-Sessellift erkennen. Direkt danach kommt die die Panoramabrücke der Bergstation in's Blickfeld.

Panoramabrücke Walmendingerhorn bei Nacht


Vögel singen. Es ist gleichzeitig ganz still und ganz viel Geräusch in der Luft. Diese wunderbare Klarheit, die liebe ich so. Diese Ruhe und Weite. Ich bin ja gar nicht weit entfernt von der Zivilisation, vom Ort, von den Hotels, von den Menschen. Aber in diesem Moment ist alles ganz, ganz weit weg.

Der Anblick des Gipfels beflügelt, bald bin ich da. Aber nicht umsonst heißt es Walmendinger HORN und nicht Walmendinger Kuppe. Jetzt kommt nochmal ein steiler Anstieg, und Schmelzwasserbäche über dem Weg haben wir auch. Ich versuche, die Stelle mit Erinnerungen an den Winter zu vergleichen, wenn hier die Skipiste verläuft, und schaue mich um. Die breite Kurve ist unverkennbar. Und die schöne Aussicht auch, den Großen Widderstein kann man schon richtig gut sehen. Emil genießt das sehr, er kühlt sich kurz im Bach ab.

4:57 Uhr: Farbexplosion

Kurz vor der Bergstation der Walmendingerhornbahn führt der Weg um eine Kurve und wir kommen von der Süd- auf die Ostseite. WOW. Was für ein Gänsehaut-Moment! Der Blick ist frei auf ein Farbenmeer, das auf der Südwestseite nicht mal ansatzweise zu erahnen war.

Über dem Tal hat sich inzwischen eine Wolkenschicht gebildet, ein weites Meer aus lebendiger Watte. Und darüber:
Ein knallbunter Himmel. Rot, Orange, Gelb, Violett, ein warmes Grau, ein zartes Blau. Was für eine Pracht, was für ein magischer Moment! Tau an den Gräsern. In den Wasserperlen funkelt der neue Tag. Hier verbringen wir ein paar Minuten, ich schaue und fotografiere. Emil sucht sich einen kleinen Schneehaufen zur Erfrischung. Unzählige Vögel sitzen in den Baumwipfeln und singen. Genau dafür, für diese Momente, bin ich unterwegs.

Morgenrot am Walmendingerhorn
Grashalm mit Morgentau


Wir sind jetzt auf 1900 m und die letzten 90 Höhenmeter liegen noch vor uns. Es geht an der Bergstation vorbei, den Zickzackweg hinauf zum Gipfelkreuz. Das warme Licht begflügelt mich, die letzten Schritte gehen sich ganz von selbst.

 
5:14 Uhr: Gipfelglück

Wir sind oben, wir haben es geschafft! Emil bekommt Frühstück und Wasser. Mir reicht erstmal ein Tee und meine Jacke. Mehr brauche ich im Moment nicht, denn die Farbenpracht ist überwältigend. Das Bild verändert sich von Minute zu Minute, alles ist in Bewegung, die Wolken, das Licht, die Farben. Es gibt so viel zu sehen. Unfassbar, dass wir in dieser Schönheit ganz alleine sind.

Emil und Nele am Gipfel

 

5:36 Uhr: Sonnenaufgang

Kurz nach halb sechs ist sie dann da, die Sonne. Sie erscheint genau hinter dem Nebelhorn, ein glühender Streifen, dann ein orange strahlender Ball. Die Wolkendecke versteckt die Orte im Tal, aber die Bergsilhouetten sind ganz klar zu erkennen.  

Sonnenaufgang hinter dem Nebelhorn
Sonnenaufgang hinter dem Nebelhorn


Es ist ein Gefühl, als ob die Zeit stillsteht und gleichzeitig unendlich viel passiert.
Wolken und Morgentau unten, Farben und Licht oben, Eindrücke von allen Seiten. Diese magische, wunderbare Fülle.
Ein Moment, den ich gerne mit jemandem teilen möchte. Gleichzeitig ein Moment, in dem ich es vollkommen genieße, alleine zu sein. Ich versuche, die Bilder einzufangen, die sich mir zeigen.
Unter uns fließen die Wolken über die Kante des Heubergs durch die Sonnenstrahlen, wie ein träger, alter Wasserfall.

Sonnenaufgang am Walmendingerhorn
Heuberggrat in der Morgensonne

 

6:10 Uhr: Brotzeit

Der Himmel verliert seine feurigen Farben und die Wärme der Sonnenstrahlen tut gut. Das wird ein richtig strahlender Tag. Ich sitze am Gipfel und genieße die Rundumsicht. Das Walmendinger Horn war damals der erste Gipfel, den ich im Kleinwalsertal kennengelernt habe. Und ich habe noch lang nicht genug davon.

Emil am Gipfelkreuz


Von hier aus kann man auf die Oberseite des Ifen-Plateaus schauen. Man sieht hinüber zur Schwarzwasserhütte und hinunter zum Herzsee. Der Widderstein ist ganz nah und leuchtet in der Morgensonne. Im Südosten sehe ich Kanzelwand und Fellhorn. Ich verfolge mit den Augen die Wege, die ich schon gegangen bin. Im Hintergrund sehe ich Trettachspitze, Höfats und Hochvogel. Und wie ich erst später auf meinen Bildern erkennen werde, kann ich sogar die Zugspitze sehen, die 65 km entfernt ist.

Ifenplateau-Thermoskanne
Widderstein im Morgenlicht, Frühlingsenzian
Fellhorn-Grat


Das hier oben, das ist mein Kurzurlaub.
Ein Wellnesstag für die Seele. Das hier oben ist ein Bonus-Tag zwischen gestern und heute, den wir ganz alleine erleben dürfen.

6:45 Uhr: Abstieg
Wir machen uns an den Abstieg. Am Gipfel lagen noch einige zusammengeschmolzene Schneeflecken, aber die schöne Soldanella und der Frühlingsenzian haben bereits geblüht.

Soltanella am Walmendingerhorn


Mit jedem Höhenmeter, den wir hinunterkommen, wird es grüner und bunter. Auf den feuchten Wiesen blühen jetzt die Schlüsselblumen und Sumpfdotterblumen. Hier leuchtet auch noch der Huflattich, der bei unten im Tal schon längst verblüht ist. Dann die ersten zarten Blätter an den Bäumen. Ganz unten satt bunte Wiesen.

Sumpfdotterblumen im Morgentau
Stutzalpe Kleinwalsertal in der Morgensonne


7:50 Uhr: Rückkehr in die Zivilisation

Der Abstieg geht schnell. Das Tal ist nun wach. Kurz vor der Stutzalpe begegnet uns ein Läufer, dann ein Mountainbiker. Vor der Bühlalpe sitzen Menschen mit dampfenden Kaffeetassen.
Die Jungrinder grasen auf der mit Morgentau benetzten Weide.
Für sie alle beginnt jetzt der Tag und wir beenden gerade unsere Tour, Emil und ich. Ein paar Stunden lang hatten wir beide diesen ganzen großen Berg für uns.

Jungrinder


8:20 Uhr: Wieder unten

Ich bin noch voller Glücksgefühle und hänge noch ein bisschen dazwischen. Zwischen dem Aufbruch mitten in der Nacht und dem neuen Tag. Ich scheue mich noch ein bisschen davor, in das Leben unten einzutauchen. Muss mich irgendwie erst wieder daran gewöhnen, den Tag mit vielen Menschen zu teilen, die zur Bergbahn gehen, die an den Bushaltestellen warten.

Mittelberg im Morgendunst


Aber wie hatte ich es in Betracht ziehen können, einfach liegenzubleiben und dies zu verpassen. So viel Schönheit war da oben und so eine große Klarheit in der Natur.
Dieses Gefühl ist es mehr als wert, mitten in der Nacht aufzustehen.

 

 

 

 


3 Kommentare

  • Wandermaus

    So schön, als wäre man dabei gewesen!

  • Susanne

    Wenn dich einer nach dem Sinn des Lebens fragt…..gib ihm das zu lesen, zeig ihm diese Bilder 🫶

  • Renate W.

    Ein wunderbar geschriebener Bericht.
    Alle Achtung vor Ihrer Leistung und die von Emil auch.

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